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#Justice4WilsonNow
Dienstag, 25. Mai 2021

von Mo Wa Baile

Ein Angriff auf eine*n ist ein Angriff auf uns alle!

Kurz nachdem der weisse Polizeibeamte Derek Chauvin einen Schwarzen Menschen, George Floyd, tötete, veröffentlichte das Polizeidepartement eine Pressemitteilung mit dem Titel “Man Dies (after) Medical Incident During Police Interaction” (Mann stirbt nach medizinischem Vorfall während Polizeieinsatz). Die Mitteilung lautet: “Two officers arrived and located the suspect, a male believed to be in his 40s, in his car. He was ordered to step from his car. After he got out, he physically resisted officers. Officers were able to get the suspect into handcuffs and noted he appeared to be suffering medical distress. Officers called for an ambulance. He was transported to Hennepin County Medical Center by ambulance where he died a short time later.” (Zwei Beamte kamen und fanden die verdächtige Person, einen Mann, vermutlich in seinen 40ern, in seinem Wagen. Sie forderten ihn auf, auszusteigen. Nachdem er ausgestiegen war, leistete der Mann physischen Widerstand gegen die Beamten. Die Beamten konnten den Verdächtigen in Handschellen legen und stellten fest, dass er offenbar unter einem medizinischen Problem litt. Die Beamten forderten einen Krankenwagen an. Der Mann wurde mit der Ambulanz zum Hennepin County Medical Center transportiert, wo er kurze Zeit später verstarb.)

Es ist nur dem neun Minuten und 29 Sekunden langen Video sowie den Augenzeugenberichten von Passant*innen zu verdanken, dass die Lügen des Polizeidepartements aufgedeckt werden konnten. Das Video wurde von der Schwarzen Teenagerin Darnella Frazier aufgenommen und zeigt den weissen Polizeibeamten, wie er sein Knie auf George Floyds Nacken drückt, nachdem dieser schon lange aufgehört hatte, “I can’t breathe” (ich kann nicht atmen) zu schreien.

Der Polizeibeamte, der George Floyd ermordet hat, wurde nun ins Gefängnis gebracht. Das Gericht verurteilte ihn nicht, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen, sondern alleine weil das Land und vor allem Minneapolis sonst in Flammen aufgegangen wäre. Das System war sich dieses Umstands bewusst, und so opferte es den Polizisten, um sich selbst zu retten. Ja, das Gericht verurteilte den Polizisten, weil so viele Menschen auf der Strasse protestierten, und vor allem wegen der Bedrohung durch fortgesetzte Strassenaktionen und nächtliche Brände in Minneapolis. Die drei anderen Polizisten, die es unterliessen, ihren Teamkollegen von der Tötung George Floyds abzuhalten, sind auf Kaution raus. Die Tatsache, dass es ein Video als Beweis braucht, um die Lügen zu entkräften, bedeutet keine Gerechtigkeit. Die Tatsache, dass wir sogar mit einem Video, das den Mord an George Floyd zeigt, nicht sicher sein konnten, ob die Polizeibeamten wirklich verurteilt werden – so etwas ist keine Gerechtigkeit. Die Tatsache, dass wir auf die Strasse gehen und hier bleiben müssen, damit die mordenden Polizisten verurteilt werden – so etwas ist keine Gerechtigkeit. Hier gibt es keine Gerechtigkeit. Das Strafjustizsystem ist ein Teil des Problems, nicht der Lösung. Gerecht wäre es, wenn George Floyd jetzt bei seiner Familie sein könnte. George Floyd wollte leben, nicht getötet werden. Gerechtigkeit ist, wenn ich auf die Strasse gehen, einen Zug nehmen, in einem Park sitzen kann, ohne kontrolliert zu werden, Pfefferspray abzubekommen, in den Würgegriff genommen zu werden, erschossen oder umgebracht zu werden. Gerechtigkeit ist, wenn alle Menschen in Sicherheit leben können. Eine Stunde vor der Urteilsverkündung töteten Polizisten in Colombus, Ohio, das fünfzehnjährige Schwarze Mädchen Ma’Khia Bryant, indem sie viermal auf das Mädchen schossen. Immer mehr Schwarze Leben werden von Polizeibeamten genommen, und viele Fälle von Polizeigewalt werden zu keiner Anklage oder Verurteilung führen, selbst wenn ein Schwarzer Mensch oder eine Person of Color oder eine weisse Person ermordet wird.

In Deutschland wurde Oury Jalloh, ein Schwarzer Mann, in einer Polizeizelle in Dessau umgebracht. Er war alleine in seiner Zelle, seine Hände und Füsse waren an eine Matratze gebunden, als er verbrannt wurde. Die Polizeibeamten, die Oury Jalloh angezündet haben, wurden für diesen Mord weder rechtlich belangt, noch verurteilt. Die Beamten wollen uns glauben machen, dass Oury Jalloh Selbstmord beging. Auch Christy Schwundeck, eine Schwarze Frau, die in Frankfurt erschossen wurde, hat nie Gerechtigkeit erfahren. Der Fall von John Achidi, der zu Tode gefoltert wurde, endete damit, dass das Opfer zum Täter gemacht wurde. Die Mörder sind immer noch auf freiem Fuss und wurden in einigen Fällen sogar in höhere Ämter befördert, wie Olaf Scholz, der für den Tod von John Achidi politisch verantwortlich war.

In der Schweiz sind Mike Ben Peter, Hervé Mandundu, Lamin Fatty und zu viele andere Schwarze Menschen in Polizeigewahrsam gestorben, und kein einziger Polizeibeamter wurde zur Verantwortung gezogen. Der Beamte, der in Lausanne drei Schüsse auf Hervé Mandundu abgefeuert hat, wurde kürzlich freigesprochen und erhielt vom Gericht sogar eine Entschädigung von 35’000 Franken, womit der Mord noch gerechtfertigt wurde. Die Familie von Hervé Mandundu und deren Anwalt werden weiter kämpfen, denn es handelt sich hier um einen “Kampf, der langfristig gewonnen wird”.

In Zürich, auf dem Weg nach Hause in einem Tram, wurden Wilson A. und sein Freund – zwei Schwarze Personen – von weissen Beamten kontrolliert. Die anderen weissen Fahrgäste wurden nicht kontrolliert, was den rassistischen Charakter dieser Polizeikontrolle zeigt. Als Wilson A. und sein Freund fragten, wieso sie denn kontrolliert würden, wurden sie aufgefordert, das Tram unverzüglich zu verlassen. Die Polizeibeamten hielten Wilson A. und seinen Freund fest, als sie sie aus dem Tram eskortierten. Wilson A. informierte die Polizeibeamten, dass er sich vor kurzem einer Herzoperation unterziehen musste, und bat darum, ihn deshalb bitte nicht anzufassen. Stattdessen sprühten die Polizeibeamten Pfefferspray direkt in Wilson A. Augen, drückten ihn zu Boden und nahmen ihn für mehrere Minuten in den Würgegriff. Wilson A. konnte kaum atmen. Er wäre fast gestorben, wie George Floyd und viele andere Schwarze Personen und People of Color. Vier Stunden nachdem er zur Polizeistation gebracht worden war, wurde Wilson Adebayo in Handschellen zum Universitätsspital transferiert.

Die Ärzte berichteten, dass Wilson schwere körperliche Verletzungen aufwies. Wenn Wilson A. nicht ins Spital gefahren worden wäre, hätte die Attacke noch fataler geendet. Der Polizeireport gab an, dass Wilson A. keine Verletzungen hatte, und die Staatsanwältin tat alles, um Wilson As Fall unter den Teppich zu kehren. Sie versuchte zweimal, das Verfahren einzustellen. Vom Bezirksgericht zum Bundesgericht zum Obergericht und zurück zum Bezirksgericht weigerten sich alle Richter, die Polizeibeamten für diese rassistischen gewaltsamen Angriff zur Verantwortung zu ziehen. Nach elf Jahren Kampf auf der Strasse und in den Gerichten kann nicht mit Gerechtigkeit gerechnet werden. Und nach fünfzehn Jahren kann der Fall „legal“ für immer ad acta gelegt werden, so funktioniert das Schweizer System. Wir müssen jetzt handeln, um Druck auf das Strafrechtssystem auszuüben! Wir müssen sicherstellen, dass diese Gewalt gegen Schwarze Menschen in der Schweiz aufhört. Der nächste Gerichtstermin ist der 22. November 2021.

Wir bitten die Menschen, den Fall von Wilson A. ernst zu nehmen und am 22. November zahlreich im Gericht zu erscheinen. Wir bitten die Menschen, sich zu organisieren, um Wilson A. zu unterstützen und den gewalttätige rassistische Polizeiarbeit und den Rassismus im Rechtssystem zu bekämpfen. Im Fall von George Floyd war es nur der Mobilisierung zu verdanken, dass der mörderische Polizeibeamte geopfert wurde. Angefangen mit dem Moment, wo Passant*innen sich entschieden, zusammenzustehen, die Aktion der Polizeibeamten zu hinterfragen und die Polizeigewalt mit einer Videoaufnahme zu dokumentieren. Natürlich ist es auch der jahrelangen Arbeit kollektiver Organisierung zu verdanken, die allem voran von Schwarzen Frauen geleistet wurde. Das Gleiche gilt für die gute Arbeit des Schwarzen Rechtsanwalt General Keith Ellison, der mit seinem Team hart dafür arbeitete, das Gericht zu überzeugen, dass es sich bei dem, was wir in dem Video sehen, um Mord handelt.

Die Menschen in der Schweiz und in Europa, allen voran weisse Menschen, müssen jetzt den Mut aufbringen, rassistische und gewalttätige Polizeiaktionen zu bezeugen und zu dokumentieren und die Ungerechtigkeiten in den sozialen Medien zu teilen, auch wenn sie dafür gebüsst werden können. Wir, Schwarze Menschen, Personen of Color und weisse Menschen müssen uns weiterhin wehren. Wir müssen weiterhin die Strassen einnehmen, bis Schwarze Menschen und People of Color sicher sein können. Andernfalls wird kein einziger Polizeibeamter für seine Taten belangt werden, denn sie werden weiterhin in den Polizeiberichten und an den Gerichten lügen, sie werden weiterhin Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen und das Straf ”justiz”system wird weiterhin auf der Seite des “Sicherheits”systems stehen.

Schwarze Menschen können nicht atmen, solange nicht die Wurzel dieser rassistischen Polizeiinstitution und dieses rassistischen und kriminalisierenden Systems, das fortwährend ohne Konsequenzen Schwarze Menschen tötet, aus dem Boden gerissen wird. Wir können damit beginnen, dass so viele Menschen wie möglich Wilson A. zum Gericht begleiten und auf die Strasse gehen, um zu protestieren, besonders in Zürich, wo er fast getötet wurde und wo der Fall verhandelt wird. Die Prozessbeobachtung vor Gericht wie auch die Aktionen auf der Strasse sind notwendig. Ein Angriff auf eine*n ist ein Angriff auf uns alle.