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Susanna mit 18

«Wieso habe ich nicht die gleichen Rechte wie alle anderen?» – Diese Frage beschäftigte Susanna ihr Leben lang bis im Frühling 2021.

Ich liebe dich über alles, aber ich bin sehr sehr müde … Ich habe in meinem Leben keine wünsche mehr oder Freude, diese Gefühle und Gedanken habe ich schon sehr lange. Mit 8 jahren hatte ich diesen Frust und trauer das erste mal, seitdem war es nie wieder gut. Ich habe sehr lange probiert, weiter zu machen und ehrlich glücklich zu sein, ohne immer nur so zu tun oder high sein zu müssen, aber ich kann das einfach nicht mehr. Ich bin kaputt, wie eine Maschine welche nur selten funktioniert … Ich möchte gerne ewig schlafen […]. Es ist nichts spezielles passiert, dass ich das heute mache, ich wollte schon am wochenende deine medikamente klauen und alles schlucken, aber ich wollte nicht dass du mich so findest, ich hab lange darüber nachgedacht, aber alles woran ich denken kann wenn ich morgens aufstehe ist zu sterben. Den ganzen Tag lang bis ich abends nach hause komme und ins Bett gehe. Ich weine viel und oft, aber ich zeige das niemandem, nur in letzter zeit weil ich mein limit erreicht habe und es nicht mehr halten konnte. Du bist für nichts schuld! Du hast alles getan was du konntest. Ich liebe dich bis Pluto und zurück.
SMS von Sasanna an ihre Mutter

Susanna drohe die Ausschaffung. Sie wisse nicht mehr weiter. Sie möchte endlich eine Antwort auf die Frage, die sie seit Jahren beschäftigt: «Wieso habe ich nicht die gleichen Rechte wie alle anderen?» Susanna wurde in der Schweiz geboren, ging hier zur Schule, sprach nie eine andere Sprache als Schweizerdeutsch. Trotzdem galt sie seit Geburt als vorläufig Aufgenommene.

Fünf Tage vor ihrem 16. Geburtstag schreibt ihre Psychiaterin dem Migrationsamt Thurgau einen Brief. Susanna habe massive Zukunftsängste, die vor allem mit ihrem Aufenthaltsstatus zu tun hätten. «Aus fachärztlicher Sicht empfehlen wir eine definitive Aufenthaltsbewilligung für Susanna, um ihr die Möglichkeit zu geben, sich psychisch zu stabilisieren und die Aufgabe ‹Leben› gut meistern zu können.» Das Migrationsamt lehnt das Gesuch ab. Es sei wohl der zehnte negative Bescheid gewesen, sagt Susanna. Jedes Jahr mit derselben Begründung. Da sie minderjährig ist, wird ihr Gesuch an jenes ihrer Mutter gekoppelt. Wegen Sozialhilfeschulden und kleinerer Delikte erfüllt die Mutter die Voraussetzungen für eine reguläre Aufenthaltsbewilligung nicht. Daran ändern auch die Rekurse der Anwälte nichts.

Anwalt Marc Spescha verfolgt die Behördenpraxis seit 30 Jahren. Er sagt: «Susanna hätte gemäss geltendem Recht längst eine Aufenthaltsbewilligung erhalten müssen, spätestens mit zwölf Jahren.» Sie erfülle die Voraussetzungen für einen Härtefall und man hätte ihr unabhängig von allfälligen Verfehlungen der Mutter einen B-Ausweis erteilen müssen.

Ohne Heimat

Mit dem F-Ausweis sei alles zu kompliziert. Im Sommer 2019, Susanna ist jetzt 17, findet sie endlich eine Anstellung als Praktikantin in einem Coiffeursalon in Wil – für 50 Franken im Monat. Ein Jahr später beginnt sie dort die dreijährige Lehre. Auf dem Ausweis heisst es unter «Anmerkung»: «Aufenthalt zur Ausbildung mit Praktikum, befristet auf ein Jahr.» Das Migrationsamt macht sie darauf aufmerksam, «dass spätestens zum Zeitpunkt des Lehrabschlusses die Voraussetzungen für einen weiteren Aufenthalt in der Schweiz vollumfänglich erfüllt werden müssen».